Es war kalt.

Pirchmoser zupfte den Schal zurecht, und sein Magen meldete sich kurz zu Wort: Der Enzian stieß ihm auf. Das war erfahrungsgemäß ein gutes Zeichen. Pirchmoser liebte gute Zeichen. Besonders in den dunkleren Nächten. Denn auch Kieberern flicht die Nachtwelt keine Kränze. Und das steht nicht beim Schiller. Das steht auf der ersten Seite von Pirchmosers Notizbuch.

Der Glanz der Welt Kriminalroman.

Der erste Band der

Wiener Bibliothek der Vergeblichkeiten

Erscheinungstermin: April 2012

ISBN 9-783-902-67284-1

256 Seiten, geb., Euro 20,40/19,80

echomedia Buchverlag, Wien

1. Kapitel - Ein Toter fällt vom Himmel

Es war völlig normal, dass dir an einem milden Herbstvormittag eine Leiche beinahe auf den Kopf fiel. Du musstest dafür gar nicht viel tun. Bloß nach dem Aufstehen keine Lust haben, dir ein Frühstück zu machen – Zähneputzen ist schließlich schlimm genug –, und gegen den guten Vor­satz von gestern doch wieder in dein Stammcafé gehen, eine Trinkschokolade und zwei Kipferln bestellen, in den internationalen Zeitungen blättern, den einen Gast oder die andere Bekannte begrüßen, das Wetter loben und auf die beschissene Regierung schimpfen. Du musstest also wirklich nichts tun, als einen ganz normalen Tag beginnen. Vier Stock zu Fuß hinunter, denn der Aufzug arbeitet um diese Tageszeit noch nicht, weil die Monteure vom Service noch nicht arbeiten. Dabei ist es schon 10 Uhr vorbei. Die Monteure von der Aufzugsfirma müssen die letzten Gewerkschaftsmitglieder im Land sein. Aber da du aus Gewohnheit und Tradition ja selber noch immer Gewerkschaftsbeiträge zahlst, obwohl du schon vor ewigen Zeiten der Lohnabhängigkeit entflohen bist, lächelst du milde. Wenigstens der Aufzug ist von der permanenten, sinnlosen Hektik der Globalisierung noch nicht ergriffen. Du gehst also zu Fuß die vier Stockwerke hinunter, und du weißt, dass du abends, allerdings mühsamer, wie­der zu Fuß bergauf steigen wirst müssen. Denn die Monteure werden zwar inzwischen ihre gewerkschaftlich abgesicherte Arbeit erledigt haben, der Aufzug wird davon aber überhaupt nicht beeindruckt sein und kurz nach dem Abgang der Monteure seinen Dienst wieder einstellen. So wie beinahe täglich.

Ein ganz normaler Tag also. Hinaus auf die Straße, um drei Ecken herum und durch zwei Gassen, und schon stehst du auf dem Stephansplatz, links das Erzbischöfliche Palais, rechts die scheußliche Gehsteigüberbauung aus den 1950er-Jahren. Du querst gemütlich den Platz, das heißt, du versuchst es. Wendest dich nach links, gehst zwischen Dom und Fiaker­standplatz Richtung Dombuchhandlung vis-à-vis der Rückseite der Kirche. Oben ein strahlend blauer Himmel, unten der Gestank von Pferdepisse. Du richtest besorgt den Blick auf das Kopfsteinpflaster, bloß nicht in eine der stinkenden Lacken treten, Atem anhalten, die nächsten Schritte ein wenig schneller gehen, dann langsamer werden, tief einatmen. Die Gefahr von unten ist gebannt. Da naht ein Schatten von oben. Der Himmel scheint sich plötzlich zu verdunkeln, rechts von dir der Stephansdom, ein unheimliches Rauschen erfüllt die Luft, drei Meter vor dir klatscht etwas auf die Pflastersteine, mitten hinein in eine große Lacke Pferdeurin – und der Him­mel wieder strahlend blau –, was dem Fleischklumpen, der vor dir auf dem Boden liegt, aber wohl egal sein wird. Dir nicht. Du siehst an dir hinunter, aber wie durch ein Wunder kein einziger Blutspritzer auf deiner Hose oder deinem Sakko. Auch vom Urin bist du verschont geblieben. Für einen norma­len Tag war das ein heftiger Beginn. Sogar sehr heftig für den Beginn eines milden Herbstvormittags.


Personen

Der Ich-Erzähler
auch: il commentatore oder l’agente, Vorname: Michele
Veröffentlich unter dem Pseudonym »Ferdinand Adler« in einer Qualitätstageszeitung regelmäßig Kolumnen zu Fragen der Zeit, wer hinter dem Pseudonym steckt, wissen nur wenige aus dem Kreis der Guten. Offiziell Privatier und Müßiggänger, hat während der Dotcom-Blase viel Geld verdient und muß eigentlich nicht mehr arbeiten. Ein humanistisch gesinnter Genußmensch von barocker Großzügigkeit, gleichzeitig dem Denken der Aufklärung verpflichtet, politisch ein enttäuschter aber unverbesserlicher Sozialdemokrat. Sein Ehrgeiz ist es, den Kreis rund um »il ministro« (siehe unten) auffliegen zu lassen, woran er natürlich bis auf weiteres scheitert.
Chiara Mascarello
auch: Chiarella, la bella
Tochter eines berühmten Weinbauers aus Montalcino, der einen der besten und eigenwilligsten Brunellos herstellt. Haßt Berlusconi und die Rechten ebenso wie kleine Holzfässer. Ihr Werbespruch: »Uns gibt es seit 150 Jahren. Wir haben nie Barrique-Wein hergestellt. Und wir werden nie einen herstellen.« Auf den Weinetiketten steht der Spruch »No Berlusconi, no Barrique«. Sie und der Ich-Erzähler kommen sich im Laufe der Handlung näher. Statt Weinbau hat sie Philosophie und Astronomie studiert und über Gramsci dissertiert.

Ägidius Himmel
auch: la sensazione
Sensationsreporter beim Blatt, scheut für eine gute Schlagzeile vor keiner Schandtat zurück. In der Wolle tief rot gefärbt. Ist seit Jahren eng mit dem Ich-Erzähler befreundet. Gemeinsam haben sie schon einige Verbrecher zur Strecke gebracht.

Kommerzialrat Goutsimsky
auch: der Kommerzialrat
Gründer und ehemaliger Leiter des wichtigsten Gourmet-Tempels von Wien. Inzwischen pensioniert. Trauert den guten, alten Zeiten nach. Kennt Gott, die Welt & die Hölle. Wettert gegen die moderne Lebensmittelindustrie und hält die Verbreitung des Wissens über den Geschmack von alten Erdbeersorten für eine wichtige volksbildnerische Aufgabe. Hat heute noch die Bezeichnungen aller 15.000 Artikel seines Gourmet-Geschäfts auswendig parat. Verachtet »il banchiere« (siehe unten), der den Gourmet-Tempel zu einem Schicki-Micki-Laden umgebaut hat.

Otto Pirchmoser
auch: il commissario
Sohn eines Tiroler Schnapsbrenners. Trägt immer seine handgemachte Hose aus Hirschleder. Kriminalbeamter bei der Wirtschaftspolizei. Hat Grapschmann, Schnittling & Co. schon lange auf dem »Kieker«. Seine Kontakte im Behördenapparat sind unbezahlbar - aber er würde ohnedies nichts nehmen, außer einem kräftigen Schluck Enzian.

Klaus-Hugo Grapschmann
auch: il ministro
War eine zeitlang Finanzminister, immer in Affären verwickelt hat er trotzdem bis heute eine weiße Weste. Er steht im Mittelpunkt fast jedes Skandals, bei dem es um die Verquickung von Geld, Macht und Politik geht. Seine Unschuld ist legendär, seine Geldgier ebenfalls.

Thaddäus Schnittling XVI.
auch: il banchiere
Der größte Privatbankier des Landes. Freunde kennt er nicht, nur Freundeskreise. Hat die Lebensmittelkette seiner Vorfahren verklopft, weil er kein Greißler sein will. Die römische Zahl im Namen teilt er mit dem derzeitgen Papst, sonst teilt er nur, wenn er sich einen Vorteil verspricht. Sein dekadentes Schönbrunner Deutsch wird viel verspottet, aber ebenso oft imitiert. Alle paar Monate muß er für ein paar Tage im Gefängnis einsitzen, bis ihn seine Anwälte mit riesigen Kautionen wieder herausholen. Mindestens so unschuldig wie Grapschmann.

Wolfram Schmock
auch: lo speculatore
Ob er das fehlende Rad am Wagen oder eher die Schraube im Getriebe ist, weiß niemand so genau. Er hat jedenfalls die Kontakte, um auch große Mengen Geldes auf unbewohnten Karibikinseln verschwinden zu lassen. Sein Gedächtnis ist ebenso kurz, wie die Festplatten seines Computers vergeßlich. Er hat schon in der Schule gern Schifferl-Versenken gespielt, im späteren Leben hat er sich darauf spezialisiert, Banken und Gewerkschaften zu versenken. Hat in Schnittling einen kongenialen Geschäftspartner gefunden, gemeinsam mit Grapschmann drehen sie an immer größeren Rädern. Staatsanwälte und betrogene Sparer schauen atemlos zu.


Fifi Kacerovsky-Cavallina
auch: l’ereditiera/Die Erbin (unter Freunden) und faccia cavallina/Pferdegesicht (unter Feinden)
Sie ist nur halb so schön, wie Grapschmann glaubt und die Medien uns einreden wollen. Unter der Belastung eines sicheren Erbes in Millionenhöhe hat sie sich auf der Suche nach Mr. Right verzweifelt durch die europäische Hochfinanz gevögelt. Ergebnis dieser Verzweiflung ist die Ehe mit Grapschmann. Ein kongeniales Paar, das die Gesellschaftsspalten füllt und die feuchten Träume einfacher Bürger bedient.