... und ich erzähle doch!
Besatzungszeit, Wiederaufbau, Studentenrevolte,
der erste sozialistische Kanzler in Österreich, gesellschaftliche
Umbrüche. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund spielt dieser
Roman.
Lemming gerät - voller Ideale - aus dem katholischen Knabeninternat
in die sozialdemokratische Bewegung. Er durchläuft eine klassische
Parteikarriere, wird Ministersekretär und schließlich
selbst Minister - berühmt, mächtig und bedeutend.
In den Straßen der Rock'n-Roll und der erregende, jedoch
schnell vergehende, flüchtige Duft der 68-er Revolte. Barocke
Ministersessel polstern den Aufstieg der Arbeiterklasse - Lemmings
Aufstieg. Diesem Aufstieg opfert er alles: seine Liebe, seine
Ideale, die Hoffnungen seiner Generation.
Eine Geschichte über Anpassung und Machtausübung, über
vergebliche Lieben. Eine Geschichte von zerbrechenden Freundschaften,
von Ingrigen und Machtspielen. Die Geschichte eines großspurigen
aber doch auch irgendwie großartigen Scheiterns.
Ein von Melancholie und viel Anteilnahme getragener Abgesang auf
die Hoffnungen und Träume einer ganzen Generation, die voll
Enthusiamus aufgebrochen aber nirgendwo angekommen ist.
Am Beispiel einiger weniger, miteinander verknüpfter Einzelschicksale
erleben wir die Mechanismen der Macht, die Zerstörungskraft
der Politik, erfahren wir die Maßlosigkeit von Menschen,
die glauben, alles erreicht zu haben oder noch erreichen zu können.
Eine Geschichte über Einsamkeit, Liebe und Macht.
Anknüpfend an die Traditionen der großen
österreichischen Erzähler der Zwischenkriegszeit zieht
der Autor in einer sehr poetischen Sprache den großen Bogen
vom Wiederaufbau bis in die Gegenwart und entwickelt dabei diese
Erzähltraditionen weiter, paßt sie den heutigen Erzählnotwendigkeiten
auf beeindruckende Weise an.
Lemming. Minister Lemming, oder wie wir jetzt wohl richtiger sagen müßten: Minister a. D. Lemming, war - ganz anders als sein vergänglicher Titel etwa vermuten läßt - ein relativ junger, eleganter Mann, der bis vor kurzem auf Festen gerne gesehen war und sich dortselbst auch gerne sehen ließ. Eigentlich ist er immer schon ein unbesonnen ernster Mensch gewesen und hat jenen leichtfertigen Charme kultiviert, den flüchtige Frauen so lieben. Seit längerer Zeit jedoch war seine Oberflächlichkeit nicht mehr nur gespielt, sie war vielmehr zu einem wesentlichen Teil seiner selbst geworden, entrückte ihn den Dingen und machte ihn gleichzeitig doch sehr anfällig für die Nebensächlichkeiten des Lebens.
Wir waren Narren. Erhabene, groteske und von ihrer Wichtigkeit überzeugte Narren. Wir stürmten vowärts und klebten immer am selben Fleck. Wir haben die Fenster und Türen aufgerissen und geglaubt, der leichte Luftzug, der durch die Räume wehte, sei der stürmische Wind der Konterrevolution. Eine Sinnestäuschung.
Die zerbombten Städte umgaben sich mit betonierten Wohnsiedlungen und schufen auf diese Weise den Schutt von übermorgen. Die leeren Straßen füllten sich mit Autos und Unrat. Mit den Menschen ging es nach der Zeit des Krieges und der Beseitigung seiner sichtbarsten Folgen wieder aufwärts. Der Lärm in den Straßen nahm zu, und in den Augen der Menschen wich das Elend des Krieges dem Glanz des aufkeimenden Wohlstandes. Dem zunehmenden Gewühl in den Straßen entsprach dennoch eine gewisse Leere in den Herzen, von der auch ich Ihnen nicht sagen kann, ob diese Leere aus den Köpfen, den sich füllenden Mägen oder womöglich aus beiden kam.
Auf die Entbehrungen und Anstrengungen des Krieges waren die Entbehrungen und Anstrengungen des Wohlstandes gefolgt. Der Hunger im Bauch ließ langsam nach, aber der Hunger in den Herzen blieb ungestillt, weil er gar nicht bemerkt wurde. In der Unrast des Wiederaufbaus kamen die Menschen nicht dazu, sich hinzusetzen und dem Schlag ihres Herzens zu lauschen. Und wenn sie es dann einmal doch taten, dann hörten sie nur ein hämmerndes, unstetes Geräusch, das zwar mit dem Herzklopfen nur entfernt Ähnlichkeit hatte, aber dem Rhythmus der Zeit entsprach.
Angelika war jedenfalls viel erfahrener
als Lemming.
Wenn er nicht wußte, wohin er seine Hände geben sollte,
sie wußte es.
Wenn er nicht wußte, was er abends zu Hause erzählen
sollte, sie wußte es.
Wenn er nicht wußte, wohin sie ihre Hände geben sollte,
sie wußte auch das.
Und wenn er in der Dunkelheit der Nacht nicht weiterwußte,
... lassen Sie mich über die Dunkelheit schweigen, aber sie,
sie wußte schon, wie's weitergeht.
Sie wußte eben viel mehr als Theodor.
Ihre kundigen Hände und seine unkundigen Augen. Er erfuhr
ihre Haut und tastete sich ihre Adern entlang zu ihrem Herzen.
Ihr Herz pochte so anders als die Herzen der Menschen um ihn.
So sanft und leise. In diesem Gleichschritt der Töne pochte
ihr Herz unregelmäßig. Ihr Herz klopfte das seine aus
dem Tritt.
Lemming, eben noch ein Knabe, war auf dem Weg zum Mann. Sie gingen
im Park des Belvedere spazieren, die Blätter auf den Bäumen
raschelten, wenn der Wind durchs Geäst fuhr und die Haare
der Menschen ergriff, um die Frisuren zu zerzausen. Daß
der Wind die Seelen mitzerzauste, fiel nicht weiter auf.
So wie unsere Väter und Großväter geglaubt hatten, durch die Stahlgewitter der Weltkriege auf das Leben vorbereitet zu sein, so glaubten wir, durch die Stahlgewitter der Elektrogitarren genug für unseren weiteren Weg mitbekommen zu haben. Wir irrten so wie einst sie! Was hatte der Krieg schon mit dem Leben zu tun, außer es massenhaft zu vernichten. Und was hatte der Rock'n-Roll mit diesem Leben zu tun, außer daß er es - durchaus annehmbar - untermalte. Bloß weil uns der treibende Rhythmus der Musik vorwärtspeitschte, hieß das noch lange nicht, daß wir glauben durften, auf dem richtigen Weg zu sein. Bloß weil wir Widerstand leisteten, meinten wir, auch im Recht zu sein. Und das waren wir wohl auch, zumindest eine Zeit lang. Einen kurzen Augenblick hindurch hatten wir alles auf unserer Seite: wir waren die kommende Generation, wir waren im richtigen Moment auf den richtigen Straßen und bekämpften im richtigen Moment die richtigen Leute. Dieser lächerliche historische Zufall machte uns hochmütig.
Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an Süßmann erinnern können. Er war kein Zyniker, er war eine Säule der Partei, alter Widerstandskämpfer. So einem war Zynismus fremd. Wir hörten ihm gerne zu. Er kannte all die alten Geschichten, die letztlich auch unsere Geschichte waren, und die eines Tages mit ihm sterben und der Vergessenheit anheimfallen würden. Er war beim Bund Sozialistischer Freiheitskämpfer, er war Freidenker und Atheist, er war alles, was er heutzutage eigentlich gar nicht mehr hätte sein dürfen.
Mit den letzten Süßmanns würde die alte
Sozialdemokratie mitsamt ihren Geschichten und ihrer Geschichte
ins Grab sinken. Die ganze Sozialdemokratie: ihre Mythen, ihre
Träume, ihre vergeblichen Helden, ihre nie erlebten Siege.
Eine ganze Kultur versank langsam mit den ersterbenden Süßmännern,
ein ganzer Kontinent, die ganze Sozialdemokratie eben.
... der Genosse Tabor, demnächst wieder wohlbestallter Minister
für Gerechtigkeit, hat ein paar Monate nach den Februarkämpfen
- als illegaler Revolutionärer Sozialist - einen Waffentransport
begleitet und beaufsichtigt. Kommt doch nicht prompt ein Polzist
und will kontrollieren. Wir wären aufgeflogen. Da hat er
ein Messer rausgeholt, und nicht lange gefackelt ...
Einige Jahre hindurch gab es kaum
eine Grundstücksspekulation in der Stadt, bei der nicht Kababs
Name aufgetaucht wäre. Kabab - dieser Mensch konnte Seelen
durch Blicke zerstören, und das wohl nur deshalb, weil Kabab
selbst nie eine Seele besessen hatte. Und tatsächlich: Kabab
war der charmanteste kalte Mensch, dem ich je begegnet bin.
Er ehelichte innerhalb weniger Jahre drei Frauen, und jede gebar
ihm ein Kind, bevor er sie wieder zum Teufel schickte. Die Kinder
wuchsen unter der wirkungslosen Obhut häufig wechselnder
Kindermädchen zu schon früh neurotisierten Wesen heran,
die nichts von ihrem Vater erbten als ein großes Vermögen.
Weder hatten sie seine Intelligenz, noch seine Kälte oder
seinen Charme. Sie hatten keine Talente, bloß verkümmerte
Gefühle. Sie waren von eigenartig anrührender Ausdruckslosigkeit.
Sie waren nicht Fisch und nicht Fleisch. Sie waren völlig
uninteressant. Genaugenommen waren sie gar nichts, bloß
Erben.
Dieser Mann also hatte beschlossen, Lemming zu seinem Nachfolger
zu machen.
Als Lemming sein neues Ministerium
mit einer vermeintlich großen Zukunft im repräsentativen
Aktenkoffer betrat, hatte er doch schon zu viel Vergangenheit
im Gepäck. Lemming trug leicht an den Sünden dieser
Vergangenheit und merkte nicht, daß sie bereits begannen,
ihn langsam einzuholen und niederzudrücken. Leichten Herzens
ließ er alles hinter sich zurück, doch der Weg vor
ihm wurde immer schwerer. Das fiel niemandem auf. Weder Lemming,
noch mir, noch sonst irgend jemandem. Weit ausholend waren seine
Schritte, seine Gestalt gerade und ungebeugt, von immer noch jugendlicher
Frische sein Gesicht, die Augen strahlten. Aber seine angeblichen
Siege hatten mit der Wucht von Niederlagen tiefe Falten in Lemmings
Seele gekerbt, kraftlos und fahl geisterte sie durch seinen innerlich
ausgezehrten Körper.
Lemming schätzte diese Verluste gering, viel zu gering. So
aufgeräumt sein Schreibtisch auch war, das Chaos in seinem
Herzen war unbeschreiblich. Nichts davon jedoch fühlte Lemming.
Er wollte nicht fühlen.
Als Lemming also seine neue Wirkungsstätte betrat, war sein
Aktenkoffer ebenso überfüllt wie seine Seele hoffnungslos
leer.
Venedig. Toteninsel San Michele.
Links Angelika und rechts Ramona, ich dazwischen und beide in
mich eingehakt.
Ein Liebespaar und Angelika.
Links und rechts übereinandergestapelt die Grabfächer
hinter weißem Gestein.
Oder ein Liebespaar und ich?
Man steigt die fahrbaren Leitern hinauf zu den Verstorbenen.
Vielleicht ein Liebespaar und Ramona?
Bunt von Blumen und hell vom Stein der Friedhof, und dunkel und
schwer die Wolken.
Womöglich ein Liebes-Terzett?
Rechts flüsterte Ramona: Bleib endlich bei mir!
Von links ebenso leise Angelika: Ich fahre bald weg.
Und ich für immer dazwischen? Was ist schon für immer?
Für wen schlug mein Herz? Egal, Hauptsache, es schlug.
Rechts Ramona: Bleib.
Angelika im Gehen: Nur noch heute!
Es wurde eine komplizierte Nacht voller Rätsel.
Niemand wollte sehen in jener Nacht.
Niemand etwas wissen. Die Sünde ist leicht und der Inzest
beschwingt unter uns bereits Wissenden. Ich weiß nichts
von jener Nacht. Es war einfach zu dunkel in jener Nacht.
(aus: Wiener Journal, Oktober 1998)
Dieser Artikel ist keine Buchbesprechung - ebensowenig ein Versuch, meinen Roman Lemming" zu erklären. Es gibt nichts zu erklären: mögliche Erklärungen muß schon jede und jeder für sich selbst finden. Es wird so viele Erklärungen geben wie Leser. Jedes Gehirn schafft seine eigene Welt, seinen eigenen Roman. Die von mir gelieferten Buchstaben sind bloß ein wenig Baumaterial, nicht mehr aber auch nicht weniger!
Ich habe einige Zeit mit Lemming gelebt. Jetzt ist er fertig, hat mein Gehirn verlassen, und gehört Ihnen: den Lesern. Machen Sie mit ihm, was Sie wollen. Erwecken Sie ihn wieder zum Leben, indem Sie ihn lesen, oder lassen Sie es bleiben. Es ist Ihr Kaffee, nicht mehr meiner!
Der hervorragende Chefredaktör dieses Blattes wollte, daß ich selbst etwas über den Lemming" schreibe. Tu ich aber nicht. Verspreche ich! Er hat gemeint, eine lobende Besprechung in einer Zeitschrift aus dem selben Verlag wie das Buch, das wäre vielleicht doch nicht ganz das Gelbe vom Ei. Sehe ich anders, ehrlich. Man ist ja eitel. Lob kann nie schaden, schon gar nicht, wenn man es nachlesen kann. Aber der Mann hat Grundsätze. Also muß ich jetzt 4000 Anschläge schreiben, damit die Seite voll wird. Das hat man davon, wenn man Bücher schreibt.
Ach ja: wozu schreibt man eigentlich Bücher? Keine Ahnung. Peter Turrini hat vor einiger Zeit den Zorn einiger Frauenbewegter hervorgerufen, als er seine Motive fürs Stückeschreiben offenbarte. Wenn ich mich richtig entsinne, dann meinte er, er, als etwas dicker, schüchterner Junge, habe sich davon einst die Chance erhofft, Frauen flachlegen zu können (oder hat er es drastischer formuliert?). Ich werde mich also hüten, meine Motive hier auszubreiten.
Woran viele Romane heutzutage kranken, ist der merkwürdige Umstand, daß viele Autoren ihre Figuren nicht mögen. Ich mag Lemming. Den erfundenen gleichermaßen, wie den echten. Die Figur ist nicht nur ein wehmütiger Abgesang auf Traditionen der Sozialdemokratie, sie ist mindestens ebenso ein Abgesang auf so manche Freundschaft meiner Jugend. Eine melancholische Rückschau, Trauerarbeit wäre wohl zuviel gesagt. Außerdem mag ich den Begriff nicht. Trauern sollte niemals Arbeit sein, sondern ein selbstverständlicher Zustand in einem der immer wiederkehrenden Wellentäler des Lebens.
Also: warum schreibt man? Keine Ahnung.
Wegen der Melodie der Worte. Ein Buch ohne Melodie interessiert
mich nicht. So etwas will ich nicht lesen und schon gar nicht
schreiben.
Nach Auschwitz kann man keine Gedichte mehr schreiben? Das würde
wohl auch für Romane gelten, besonders für poetische,
für solche mit Melodie, also auch für Lemming. Ich muß
widersprechen: gerade nach Auschwitz können wir gar nichts
Anderes mehr tun, als Gedichte schreiben und Romane verfassen.
Ich wollte es nur einmal gesagt haben.
Viele mißtrauen einer Sprache, die ihre eigene Schönheit betont. Ich nicht. Sie mißtrauen den Möglichkeiten des Erzählens. Dann sollen sie es halt bleiben lassen. Ich jedenfalls glaube nicht, daß man der Zerstörung der Welt gerecht werden kann durch Dekonstruktion der Sprache und des Erzählens.
Ich weiß schon: die Welt ist ihrem eigentlichen Wesensinhalt nach nicht erfaßbar. Folglich ist sie - vermutlich - auch nicht erzählbar. Da bleibt mir nur ein trotziges Und ich erzähle doch!". Auf dieses Problem des Erzählens mit der Auflösung der Sprache zu reagieren, mag vielleicht weniger naiv sein, als mein kindisches Beharren auf dem Erzählgestus - aber ergebnislos ist das eine ebenso wie das andere. Dann erzähl ich lieber gleich!
Nein, die Welt ist wohl wirklich nicht erzählbar.
Was solls! Ich schere mich nicht drum. Irgendwie muß
die Zeit, die wir haben, doch gefüllt werden - jene Zeit,
von der wir nicht wissen, wozu sie taugt, in welche Richtung sie
zeigt, und ob es sie überhaupt gibt.
Um die Vergeblichkeit wissen und trotzdem schreiben: wie töricht
und doch voll Zuversicht. Eine Zuversicht, die auf nichts gründet
und keine Ergebnisse kennt - nur bedruckte Seiten, auf denen sich
Buchstaben zu immer neuen Worten ordnen. Und die Worte zu Sätzen.
Und die Sätze zum Roman. Und der Roman zum Leben. Oder umgekehrt?
Nein, die Welt ist nicht erzählbar. Gleich
Sisyphos wälze ich leichter Feder die Wörter den Berg
hinauf, sie rollen hinunter und bilden bizarre Haufen aus Stein:
sieh da, ein Roman!
Die nächste Generation: nimm den Steinhaufen auseinander
und wälze die Wörter wieder den Berg hinauf. Alles wird
immer wieder Roman. So einfach ist das.
Jeder dieser Steinhaufen: eine ganze Welt. Ich kann mir Sisyphos
nicht als glücklichen Menschen vorstellen. Und ob er wenigstens
seine Würde behält: auch da habe ich meine Zweifel.
Bloß eines weiß ich sicher: der Erzähler ist
ein glücklich Gescheiterter.
Nichts von dem, was wir erzählen ist wahr, aber in seltenen
Glücksfällen ist es wenigstens für einen kurzen
Augenblick des Innehaltens von wundervoll trauriger Schönheit.
Mehr ist von uns Sterblichen nicht zu erwarten.