1968

Ein kurzes Lächeln im langen Mai

Erscheinungstermin: Anfang Mai 2008

ISBN 978-3-85485-225-4

ca. 204 Seiten, geb., Euro 19,95

Molden/Styria, Wien

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Warum mochte Frank Sinatra die Rolling Stones nicht?
Und wieso hat Charles de Gaulle nie mit der Bardot geschlafen, Sarkozy aber sehr wohl mit Carla Bruni?
"I have a dream!", rief Martin Luther King und verröchelte in seinem Blut.
Der Traum war zum Alptraum geworden.

Es ist Mai 1968, der Autor gerade 14 Jahre alt. Er verlässt das katholische Internat und erlebt eine neue Welt. Die Essays kreisen um den längsten Mai der Geschichte, um seine verheißungsvollen Anfänge und sein jämmerliches Ende. Um die Musik jener Zeit, die das Lebensgefühl prägte. Das Cover des Buchs kommt deshalb auch im "Look" des 1968 erschienenen, epochalen Albums der Rolling Stones  daher: des Meisterwerks "Beggars Banquet".
40 Jahre nach der Revolte blickt der Autor zurück auf sich selbst, auf seine Gefühle und Empfindungen, in die er damals kaum Ordnung bringen konnte. Das Wissen um den Ausgang der Revolte prägt diesen Blick zurück und ermöglicht uns überraschende Erkenntnisse.
Frankreich stand kurz vor einer Revolution, Deutschland schlug sich mit einer deutlich kleineren Revolte herum, und in Österreich verkam das Geschehen - man möchte fast sagen: gewohnheitsmäßig - zur Farce. Doch das störte diesen 14-Jährigen nicht. Sein Herz war überall, und  das war vielleicht das wichtigste Gefühl der 68er: Es gab nichts auf dieser Welt, das sie nichts anging. Man war Teil des großen Dagegenseins.

1968 war ein Aufstand, dem das Lächeln im Gesicht gefror, bevor es noch zu einem schallenden Lachen hatte werden können.
Das kurze Lächeln war ein Versprechen, das nie eingelöst wurde. Am Schluss war die Niederlage vollkommen und die besiegten 68er nicht aufzuhalten. Sieg und Niederlage wurden ununterscheidbar.
"What can a poor boy do, except to sing in a Rock 'n' Roll-Band?", sangen die Stones. Am erfolgreichsten sind scheinbar immer die verlorenen Revolutionen.



Provisorisches Inhaltsverzeichnis:


Vom Lächeln
Beggars Banquet
Austria 3, Nil, C, Donau, Gaulloise, Parisienne
Des Maiens uneheliche Kinder: Die Talkshows
Das Protestlied
Blümchensex und Elternleid
Als der Mai katholisch wurde
Eine neue Kleiderordnung
Warum gibt es keine 33er und 38er?
Die Hippies und der Neoliberalismus
Der 2CV und die Revolte
Puddingpulver, Vietnam und Kennedy
The whole world is watching
Die „in”s werden in - Vom Tech-in zum Love-in
Dumme Sprüche im Mai - wer zweimal mit der selben pennt
Papa, Mama - was habt ihr im Mai gemacht?
Sie waren alle 68er!
Als die Rockmusik noch lebte
Verbotene Worte - Der Dialekt wird gesellschaftsfähig
Warum deGaulle nie mit der Bardot geschlafen hat
Die im Dunklen sieht man nicht - Die Nichtkarrieren
Saturday Night Fever
Ein Dramolett zum Schluß: Als der Mai ein paar Tränen vergoß

LESEPROBE

Wie ich dazu kam

Am Vorabend hatte der Internatsleiter sich in gewohnter Weise durch die Klasse geprügelt. Er tat dies mit sadistischem Ernst und gläubiger Inbrunst. Als Stellvertreter Gottes in den Gängen dieses ehemaligen und nunmehr säkularisierten Klosters stand ihm das offenbar zu. Zumindest bis zu diesem Tag hatte niemand offen seine diesbezügliche Kompetenz bezweifelt. So wie Moses einst mit den in Stein gemeißelten zehn Geboten vom Berg Sinai herunterstieg, während sein Volk auf Gottes Befehl hin die ganze Zeit am Fuß des Berges warten mußte, so war unser Internatsleiter heruntergestiegen zu uns irdischen Zöglingen eines katholischen Internats, um uns die zehn Gebote in den Schädel zu meißeln, bevor wir auch nur wagen konnten, dem Berg Sinai zu nahe zu kommen. Er war Strafe und Gotteszorn in einem. Er verkörperte all jene Gesetze, die eine Kirche sich in zweitausend Jahren nur ausdenken hatte können. Er verkörperte diese Gesetze direkt und ungebrochen. Daß dabei so manche Kinderseele gebrochen wurde, lag in der Natur der Sache. Das Gute ließ gar keine andere Wahl als die, das Böse auszurotten. Ich war dreizehn Jahre alt und hatte erkannt, daß Gott, zumindest dieser Gott, die Schwachen nicht zu schützen vermochte, sie vielleicht nicht schützen wollte. Die Mühseligen und Beladenen, von denen ich in der Bibel gelesen hatte, waren seine Sache nicht. Ich hatte keine Ahnung von der Theorie der Theodizee, die erstmals der große Gelehrte Leibniz formuliert hatte. Unser Internatsleiter aber war die irdische Inkarnation der Widerlegung dieser Idee, die besagt, daß ein Gott, der soviel Leid auf der Welt zuläßt, sehr wohl zu rechtfertigen sei. Ich hielt es ganz instinktiv mehr mit Stendal, den ich damals natürlich ebensowenig kannte, und der meinte, daß die einzige Entschuldigung Gottes die sei, daß es ihn nicht gibt.
Für mich war die Sache klar: ein Gott, der unseren Internatsleiter nicht nur erschaffen hatte, sondern ihn auch uneingeschränkt gewähren ließ, konnte kein Guter sein. Der Internatsleiter, nennen wir ihn Mühselig, war ein Mann von kräftiger Statur, harte Arbeit war ihm ebensowenig fremd wie hartes Strafen. Ein rabiater Zeitgenosse, jähzornig und schlagkräftig in einem, hätte er wohl selbst dem Höllenhund Zerberus Ohrfeigen verabreicht, und zwar gleich mehrere auf jeden der fünfzig Köpfe, denn ein Tier das sich mit so vielen Köpfen, also auch Mündern dem Schlemmen hingab, verdiente nur Prügel. Umso unheimlicher mußte uns Halbwüchsigen dieser Doppelwüchsige erscheinen. An Körperkraft waren wir ihm eklatant unterlegen, und das nützte er weidlich, um uns zu missionieren. Wir waren seine Wilden und er unser Kolonialherr. Mühselig zeigte uns, wo Gott wohnte, nämlich in der rechten Faust, mit der er auf uns eindrosch. Doch anstatt in Gottesfurcht zu erstarren, fürchteten wir bloß Mühseligs Faust, seinen Terror gegen alle und jeden. Beim Terror war er Demokrat. Niemand entkam seiner Gewalt. Jeder war schuldig in seinen Augen, und jeder bekam die Strafe, die er verdiente. Jeder war schuldig, und jeder wurde sein Opfer. Er war bekennender Klerikalfaschist, auch das ein Wort, das ich damals noch nicht kannte, und brachte es zuwege, in ein und dem selben Satz sowohl die christliche Milde zu beschwören als auch den Beschuß von Gemeindebauten im roten Wien zu rechtfertigen. Ungläubige galten ihm als verdächtig, Sozialdemokraten als Gesindel. So wurde ich freudig Sozialdemokrat. Das Gesinde war meine Sache und nicht das Herrschen. Ich war gerade 13 Jahre alt, und am Vorabend hatte Mühselig fünf Mitzöglinge verdroschen. Folgerichtig also verbündete ich mich mit der Sozialdemokratie und nicht mit Gott, denn seine Feinde waren meine Freunde, und seine Freunde konnten nur meine Feinde sein.

Gott also war mein Feind an jenem Morgen nach den Prügeln der Nacht. Aber Gott war nicht greifbar, nirgends zu finden. Anwesend nur in der Figur von Mühselig. Welch armseliger Gott, der sich auf die Fäuste von Mühselig stützen mußte. Armselig und bedauernswert. Ich, nein: wir brauchten Verbündete, und Gott schied von vornherein aus. Das stand außer Frage. Aber was war mit unserem Deutschlehrer, höchstens zehn Jahre älter als wir, dessen Haare langsam über den Hemdkragen hinauswuchsen, was ihm bei uns natürliche Autorität verlieh? Oder unser Musiklehrer, der uns im Unterricht heimlich Platten von Bob Dylan vorspielte. Vielleicht wußten sie, wo der wahre Gott wohnte. Aber ihre Antwort war klar: Gott, das ist bestenfalls ein unterstandsloser Vagabund. Einer wie du und ich. Einer, der nirgendwo eingelassen wird, weil er ungewaschen ist und stinkt. Nackt ist er zudem noch dazu, weil er sein letztes Hemd einem Armen gegeben hat. Einem guten Christen würde das nie einfallen. Einem guten Christen, wie Mühselig denn einer war. So schmiedeten wir ein Komplott. Unser Deutschlehrer riet uns, Mühselig zu provozieren. Nichts leichter als das, dachten wir. Und wenn er zuschlug, sollten wir sofort aus dem Internat davonlaufen, zu irgendeinem Arzt oder einer Polizeiwachstube und ihn wegen Körperverletzung anzeigen. Doch wer auch immer in Mühseligs Fäusten wohnte, der hat ihn wohl gewarnt. Mühselig bebte, zitterte, seine Mundwinkeln zuckten. Keine Faust kam ihm aus und kein Gott. Er brüllte, die Adern an Stirn und Hals traten heraus, schienen zu platzen, der ganze Mann schien zu platzen. Aber er schlug nicht mehr zu.