KRISENNOVELLEN

Erzählungen aus dem
Wellental der Konjunktur

Erscheinungstermin: November 2010

Verein Alltag Verlag, Wiener Neustadt

Auszug aus:

Krisennovelle

Wie verschwenderisch auch immer ein bestimmter

Aufwand in der Realität sein mag, so muß er

letztlich doch eine plausible Rechtfertigung

durch ein scheinbares Ziel finden.

Thorstein Veblen:

Die Theorie der begüterten Klasse (1899)

Ich heiße Karl Medler und bin Geschäftsmann - so steht es zumindest auf meiner Visitenkarte. Lebenskünstler, Nichtstuer, Bonvivant - was auch immer ich lieber darauf stehen gehabt hätte, der Mann von der Druckerei hatte sich geweigert, auch nur eine dieser Bezeichnungen in das Auftragsformular einzutragen. „Das gehört sich nicht”, hatte er seine Ablehnung standhaft begründet. Nachdem er den letzten Laden besaß, in dem die Druckplatten noch von Hand gestichelt wurden, gab ich resignierend nach. Also: Geschäftsmann, obwohl es nichts gibt, was ich weniger bin. Geschäfte haben mich nie interessiert. Ich bin eine nutzlose Existenz: ich beteilige mich nicht am allgemeinen Schuften der Schufte und dem damit angeblich verbundenen Schaffen. Die industrielle Zusammenballung von Schweiß und der ungebändigten Kraft riesiger Maschinen (und nur das ist für mich Industrie, da bin ich altmodisch) interessieren mich ebensowenig, wie die Rechenleistungen all der großartigen Computer, die nicht nur dauernd schneller und billiger sondern in meinen Augen auch immer nutzloser werden. Sie vernichten die Lebenszeit der ihnen ausgelieferten Menschen auf immer effizientere Weise. Darin erblicke ich keinen Sinn. Das kann ich selbst besser, da noch ineffizienter. Ineffizienz scheint mir eigentlich die einzig angebrachte Lebensform, Effizienz dagegen die schiere Vergeudung der wenigen Jahre, die einem gegeben sind.

Wie gesagt: eine durch und durch nutzlose Existenz. Das Arbeitsethos der bürgerlichen Gesellschaft hielt ich schon immer für kindisch, den Expansionswahn des Kapitals für eine pseudoreligiöse Verirrung. Von den vielen angeblichen Erkenntnissen der Psychoanalyse erscheint mir die Feststellung, daß das dauernde Zusammenraffen von Geld und Vermögen Ausdruck einer Persönlichkeit sei, die tief in ihrer analen Phase steckengeblieben ist, noch die plausibelste. Ich finde meine Nutzlosigkeit wesentlich akzeptabler als all die gestörten Erscheinungen, die, von ihrer Wichtigkeit überzeugt, stolz darauf sind, von den ewig gleichen Titelblättern der Wirtschaftsmagazine mit leeren Augen den Käufern entgegenzustarren. Diese Köpfe unterscheiden sich von einander so wenig wie die dazu gehörigen Anzüge. Ich habe nie dazugehört!

Dabei hätte ich alle Voraussetzungen gehabt, einer von denen zu werden. Ich stamme aus reichem Haus, einem sehr reichen sogar, aus einer Familie, die diesem Reichtums große Macht verdankt und diese Macht auch ausübt. Reich zu sein ist mir weder unangenehm noch unwillkommen. Bloß - warum hätte ich das, was ohnedies im Überfluß vorhanden war - Geld! - auch noch vermehren sollen. Ein solches Verhalten erscheint mir in hohem Maße unlogisch, denn ich sehe den einzigen Nutzen des Geldes in seiner radikalen Vergeudung. Aber der Kapitalismus ist nicht logisch, das glauben nur ein paar Sektierer, die vorgeben, sich mit Wirtschaftswissenschaft zu beschäftigen.

Und um gleich mit einem Märchen aufzuräumen: natürlich macht Geld glücklich. Fragen Sie einen Bettler, fragen sie arme Leute, fragen sie irgendwen: alle werden Ihnen bestätigen, daß Geld sogar ungemein glücklich macht. Nur die Reichen verbreiten den Unsinn von der unglücklich machenden Wirkung des Geldes voll Freude und mit Vehemenz (ich bin nur die berühmte Ausnahme von der Regel). Sie müssen sich meine Person als eine glückliche vorstellen, denn meine Existenz ist gesichert bis in die dritte Generation nach mir - und da ich nie die Absicht hatte, unnützen Nachwuchs zu zeugen, bleibt alles für mich. Mein Ehrgeiz ist es, mit meinem letzten Schnaufer auch mein Vermögen auf exakt Null gebracht zu haben. Bis vor kurzem dachte ich auch, daß mir dies auch nicht allzu schwer fallen würde. Ich bin im besten Alter, habe also noch eine statistische Lebenserwartung von rund 25 bis 30 Jahren, dazu die besten Ärzte und aufwendige Kuren, macht noch ein paar Jährchen mehr (und keiner erzähle mir, man könne sich nicht ein paar zusätzliche Ehrenrunden auf Erden kaufen!). Den in der Verwandtschaft reichlich vorhandenen Erbschleichern ist angesichts meiner strotzenden Gesundheit und angesichts meines verschwenderischen Lebenswandels ohnedies jede Lust vergangen, sich meinen Launen auszusetzen.

Ein rundum glücklicher Mensch also, genau das bin ich. Und ich gedenke, daran nichts zu ändern, trotz der großen Änderung, die mein Leben vor einigen Monaten erfahren hat. Eine Änderung, die mich durchaus in gewisse Schwierigkeiten gebracht hat, besonders in Hinblick auf die wenigen Eckpunkte meiner bisherigen Lebensplanung, die im wesentlichen eben nur das eine Ziel kannte: Null-Vermögen beim Herzstillstand.

Ich sage das so leicht hin. Aber ich war wirklich nicht schockiert. Nicht einmal überrascht. Scherzend hatte ich zum Arzt gesagt: „Keine Geheimnisse, Herr Doktor. Immer heraus mit der Wahrheit, ich kann mit ihr leben.” Das war natürlich gelogen, denn niemand kann mit der Wahrheit leben. Mit keiner Wahrheit - wie gnädig oder wie ungnädig sie auch ist. Er hat mich abschätzend angesehen, blickte sehr ernst, wackelte ein paar Mal langsam mit dem Kopf, stützte dann das Kinn auf seine gefalteten Hände und sagte mit einer Stimme, die offenbar versuchte, Ruhe auszustrahlen: „Es schaut nicht gut aus. Krebs.”

Ich zuckte mit der Schulter und lächelte weiter: „Wie lange habe ich noch?”

Tief durchatmend lehnte er sich langsam in die hohe Rückenstütze seines Drehstuhls zurück: „Wer weiß das schon. Ein paar Monate, ein Jahr, zwei Jahre. Keine Ahnung. Wer weiß das schon. Es ist weit fortgeschritten. Sie sind ziemlich spät gekommen.”

Seit Monaten schon hatte ich diese merkwürdigen Beschwerden im Mundraum. Zuerst nur eine kleine Unebenheit, dann wurde das Ding größer. Es hatte auch nicht geschmerzt, und ich hatte es nicht weiter beachtet. Ich bin ein aufgeklärter Hypochonder. Diese unterscheiden sich von normalen Hypochondern dadurch, daß sie zwar jede körperliche Veränderung genau registrieren, sich auch der unweigerlich tödlichen Folgen jeder solchen Veränderung voll bewußt sind - aber keine Konsequenzen ziehen. Der aufgeklärte Hypochonder liebt seine Ängste und meidet Ärzte, die aus Ängsten erst Krankheiten machen.

Aber irgendwann begann es, auch weiter unten im Hals anzuschwellen und weh zu tun. Der zunächst nur gelegentlich spürbare Druck im Hals wurde immer stärker und ließ schließlich überhaupt nicht mehr nach, wurde zum Schmerz. Daher: auf zum Arzt. Röntgen, Tomographie - das Übliche halt.

„Jetzt bist du ein Fall”, dachte ich inmitten all der summenden Maschinen, „wirf oben den Menschen hinein, und unten fallen die Fälle heraus.”

Ich hatte den Arzt verlassen, stand auf der Straße und atmete die kühle Luft des ersten echten Herbsttages ein. Welche Lust, zu leben!

„Sie gehören ins Krankenhaus”, hat er noch gemeint.

„Nicht so schnell”, habe ich geantwortet, „ich wurde zwar innerhalb weniger Minuten gezeugt, gedenke aber keineswegs, mit dem gleichen Tempo von der Erde zu verschwinden. Sind Sie überhaupt sicher?”

„Todsicher”, sagte er und erschrak offenbar über dieses Wort, denn er korrigierte sich sofort: „Hundertprozentig sicher! Der Befund ist eindeutig.”

„Wenn ich ohnedies schon spät dran bin, kann es auf ein paar Tage auch nicht mehr ankommen.”

Er zögerte: „Ich würde bald was tun, Sie haben schon viel Zeit verloren. Jetzt kann jeder Tag wichtig sein.”

Ich lächelte: „Ist nicht immer jeder Tag wichtig? Wissen Sie, ich habe nie daran geglaubt, daß man etwas versäumen könnte.”

Ich stellte keine Fragen. Es war alles so sonnenklar: die Zeit war abgelaufen, wie lange ich wirklich noch hatte, konnte oder wollte er mir nicht sagen. Der Rest würde sich weisen. Ich machte mir keine Sorgen. Was war, das war. Was ist, das ist. Was sein sollte, das sollte sein. Ich war am Ziel all meiner hypochondrischen Phantasien angekommen, wie hätte ich da Angst haben sollen? Früher hätte ich mir eine Zigarette angezündet, aber ich rauche seit ein paar Jahren nicht mehr.

„Zu spät”, hatte der Arzt gesagt, „alle hören zu spät mit dem Rauchen auf.”

Im nachhinein ist guter Rat billig. Der Mann hat leicht reden. Natürlich ist Rauchen ungesund. Das Leben als solches ist ungesund. Platitüden! Ich fühlte eine unangemessene Heiterkeit angesichts des offensichtlichen Ernstes der Lage.